Manchmal erscheinen Alben, die gar nicht versuchen, sich in die Gegenwart hineinzuschmuggeln, sondern die Gegenwart zu sich herüberziehen. California™ feat. Les Fradkin machen auf „Postcard From London“ genau das: Sie schicken eine musikalische Postkarte aus den goldenen Tagen der britischen und amerikanischen Popkultur – und lassen sie so klingen, als wäre sie nie in den 60ern aufgegeben, sondern 2025 endlich zugestellt worden. Die Grundidee ist schon in der offiziellen Biografie angelegt: „The past is present in the future.“ Das klingt zunächst wie ein hübscher Slogan, erweist sich aber beim Hören als Leitlinie. Hier wird die Vergangenheit nicht bloß zitiert, hier schreibt sie aktiv mit. Dass das Cover dabei sichtbar von den Beatles und speziell von „Abbey Road“ inspiriert ist, ist kein Zufall, sondern eine offene Einladung: Dieses Album will als Teil einer langen Pop-Erzählung verstanden werden. Und es ist ehrlicher, gleich darüber zu sprechen, als so zu tun, als wäre das alles zufällig passiert.
Eine Grußkarte aus einer Zeit, die nicht vergeht
Der Absender dieser Postkarte ist kein Unbekannter. Les Fradkin, Multiinstrumentalist, Produzent und einstiger Original-Cast von „Beatlemania“ am Broadway, gehört zu jenen Musikern, die Nostalgie nicht als Verklärung, sondern als Werkzeug nutzen. Er weiß, wie sich Rickenbacker-Chimes, Mellotron-Schimmer und mehrstimmige Sunshine-Harmonien anfühlen müssen, damit sie nicht nach Retro-Kostüm, sondern nach lebendigem Pop klingen. Dass er vor über 50 Jahren in den Abbey Road Studios gearbeitet hat – zur selben Zeit, als die Beatles dort ihr ikonisches Cover fotografieren ließen –, ist dafür mehr als eine hübsche Anekdote. Es ist der historische Anker, um den herum „Postcard From London“ gebaut wurde. Das Artwork greift das auf, streut kleine Hinweise („es gibt zahlreiche Clues“, heißt es im Pressetext) und macht klar: Dieses Album ist Fanservice, Selbstvergewisserung und Liebeserklärung in einem.
22 Kapitel, 13 Originale, 9 Cover – ein klingendes Familienalbum
22 Songs sind eine Ansage. In Zeiten, in denen Pop-Veröffentlichungen oft schon nach 30 Minuten möglichst „playlistenfähig“ durch sein sollen, wirkt „Postcard From London“ fast demonstrativ ausladend. Aber genau diese Überlänge ist Teil des Konzepts. Die Platte soll sich nicht wie ein schneller Stream, sondern wie ein Tag im Leben anhören – Auto, Küche, Flugzeug, Zug, Strand, wie es der Text sagt. 13 der Stücke sind Eigenkompositionen, 9 sind Cover, und beides wird nicht säuberlich getrennt, sondern miteinander verwoben, sodass immer wieder dieser Effekt eintritt: „Moment, ist das jetzt ein Klassiker oder ein neuer Song, der genauso gut in den späten 60ern hätte erscheinen können?“ Das ist ein Kompliment, denn es heißt, dass Fradkin und seine Mitstreiter die Sprache dieser Ära so gut beherrschen, dass sie eigene Sätze darin schreiben können.
Ein Album mit absolut fantastischen Gästen
Dafür hat er sich ein bemerkenswertes Ensemble eingeladen: Joe Pecorino, Mitch Weissman, Justin McNeill, Jim Dessey, Rick Bloom, Mick Ronson, Phil Spector, Hilly Michaels, John Hawken, Dave Stalheim, Joe Rotondo – und nicht zu vergessen die Beiträge von Tom Finn, Steve Martin Caro, George Cameron und Michael Brown aus dem Umfeld von The Left Banke. Gerade die letzten beiden Brown-Kompositionen, die Michael Brown noch gemeinsam mit Les und Loretta Fradkin fertigstellte, geben dem Album eine leise tragische Note: Hier ist nicht nur Musik zu hören, sondern auch Abschied, Bewahrung, Weitergabe. So wird die umfangreiche Tracklist zu einem Familienalbum, in dem jede Seite mit einem anderen gemeinsamen Moment beschriftet ist.
Eine helle Retro-Ästhetik die alles erleuchtet
Musikalisch dominiert eine sonnige, helle Retro-Ästhetik, die man sofort mit Kalifornien, Rickenbacker-Gitarren und dem unerschütterlichen Glauben an die Melodie verbindet. Stücke wie „Jangleholic“ machen da gar kein Geheimnis draus – der Titel sagt schon: Hier geht es um genau dieses Gitarrengeklingel, das einst die Byrds, später die Power-Pop-Generation und irgendwann auch den Indie der 80er/90er prägte. „I Could Make It Last Forever“ nimmt das Tempo heraus und holt das Album in diese bittersüße Zone, in der Pop über Vergänglichkeit singt, aber trotzdem lächelt. „Come Fly To Fall In Love“ wiederum klingt wie ein Soundtrack zu einem nie gedrehten 70er-Jahre-Liebesfilm: romantisch, leicht überlebensgroß, aber mit genug Erdung im Arrangement, damit es nicht ins Kitschige kippt.
Bemerkenswert ist, wie konsequent die Produktion den roten Faden hält. Trotz der vielen Mitwirkenden, trotz der Mischung aus neu und alt, trotz der Ausflüge in weihnachtliche Gefilde (man denke an „Christmas Vacation“ oder „A Christmas Gone Too Soon“) bleibt das Klangbild geschlossen: warme, aber klare Gitarren, Vintage-Keyboards, die nicht aufdrücken, sondern tragen, Gesangssätze, die deutlich von der britischen Pop-Tradition der späten 60er und frühen 70er inspiriert sind. Man hört sofort, dass hier jemand sitzt, der Mischungen ausbalanciert wie ein Toningenieur der alten Schule – alles hat seinen Platz, nichts drängt sich ungebeten nach vorne.
Covers als Zeitreisen und Gespräche zugleich
Der wirklich heikle Teil solcher Alben ist fast immer der gleiche: die Covers. Wer „Good Vibrations“, „Brown Eyed Girl“, „Willin“ oder „The Mighty Quinn“ in seine Tracklist aufnimmt, der lädt den Vergleich mit Größen wie The Beach Boys, Van Morrison oder Manfred Mann automatisch ein. California™ feat. Les Fradkin umschiffen diese Klippe, indem sie die Stücke nicht museal, sondern dialogisch behandeln. Sie kopieren nicht die Vorlage, sondern setzen sich an den Tisch und sagen: „So würden wir das heute mit unserem Klangkosmos erzählen.“ Die Songs bleiben erkennbar, aber sie stehen nun neben Fradkin-Originalen, die stilistisch so nah dran sind, dass man sie problemlos in eine gemeinsame Setlist packen könnte. Genau dadurch entsteht das, was die vorliegenden englischen Rezensionen bereits angedeutet hatten: dieses Gefühl eines „panoramic 22-track voyage through love, memory and the unending vitality of song“ – ein Panorama, das die eigene Vergangenheit, die Popgeschichte und das Heute in eine fortlaufende Erzählung verwandelt.
Ein besonderes Kuriosum – und gleichzeitig einer der emotionalen Höhepunkte – ist die Einbindung von „All You Need Is Love“ in einer Aufnahme von 1976, als Joe, Les, Mitch und Justin das erste Mal zusammen im Studio standen, kurz bevor es für sie in die Broadway-Produktion von „Beatlemania“ ging. Im Albumkontext wirkt das wie eine Tonkassette, die man im Familienhaus auf dem Dachboden gefunden hat: etwas körniger, mit einer anderen Raumakustik, aber voller Energie. Vor allem aber schlägt dieses Stück den Bogen zum Cover-Artwork – und zur Beatles-Referenz insgesamt. Dass das Covermotiv deutlich an Abbey Road erinnert, ist also keine reine Retro-Laune, sondern eine Art Rückverzauberung: Musik, die damals in London begann, kommt nun, viele Jahrzehnte später, in „Postkartenform“ zurück.
Abbey Road als Kulisse, die Beatles als Blaupause
Man sollte das nicht unterschätzen: Wenn sich ein Album so offen auf die Beatles bezieht – visuell, biografisch, ästhetisch –, dann lädt es damit auch Kritik ein. Aber California™ feat. Les Fradkin gehen klug damit um. Die Abbey-Road-Anmutung des Covers ist nicht als „Wir waren auch mal da“-Posing gemeint, sondern als Hinweis: „Wir kommen aus dieser Schule. Wir wissen, dass Pop mehr ist als drei Akkorde und ein Hook. Wir wissen auch, dass Studioarbeit Kunst ist.“ Dass Fradkin selbst vor über 50 Jahren in denselben Studios gearbeitet hat, macht die Geste glaubwürdig. Und natürlich ist es ein bisschen Fan-Fiction: Die Idee, dass da noch irgendwo unentdeckte Hinweise im Foto stecken, dass das Cover vielleicht sogar inhaltliche „Clues“ auf die 22 Songs liefert, das ist ein klassisches Beatles-Spiel – aber genau dieses Spiel hat die Popkultur groß gemacht. Wer die Beatles liebt, erkennt hier einen Verbündeten, keinen Plagiator.
Inhaltlich setzt das Album diesen Gedanken fort: Die Popgeschichte ist kein Museum, sondern ein offenes System. Man kann 2024/25 noch neue Songs in der Sprache der 60er schreiben, wenn man sie emotional ernst meint. „Postcard From London“ macht das. Es denkt die Beatles-Ästhetik nicht als starres Idol, sondern als flexibles Vokabular. Dass dabei auch noch Weggefährten von The Left Banke auftauchen – also jener Band, die mit „Walk Away Renée“ gezeigt hat, wie barock und emotional Pop sein kann –, verstärkt den Eindruck, hier würde ein Stück Alternativ-Geschichte weitererzählt.
Zuviel Songmaterial? Vielleicht. Aber schön.
Bleibt die unvermeidliche Frage: Ist das nicht alles ein bisschen viel – 22 Songs, so viele Gäste, Beatles-Anspielungen, Abbey-Road-Foto, historische Aufnahmen, letzte Kompositionen eines verstorbenen Freundes? Ja, es ist viel. Aber es ist ein bewusstes Viel. California™ feat. Les Fradkin legen hier keine kuratierte 10-Track-Spotify-Playlist vor, sondern eine Pop-Chronik. Wer sich darauf einlässt, bekommt genau das: ein Album, das man nicht in 20 Minuten „weg hört“, sondern das man etappenweise entdeckt. Man kann mit den strahlenhellen Gitarren von „Jangleholic“ einsteigen, sich von „I Could Make It Last Forever“ ein paar sentimentale Minuten gönnen, später in die großen Namen bei den Covers kippen und zum Schluss feststellen, dass selbst die weihnachtlichen Stücke nicht wie Fremdkörper wirken, sondern wie zusätzliche Fotos im Album.
Eine Produktion die Konsequent überzeugt
Produktionsseitig überzeugt das Ganze durch Konsequenz. Fradkin mischt wie jemand, der diese Ästhetik seit Jahrzehnten im Ohr hat: Keine überpräsenten Drums, kein zu lauter Bass, keine hysterischen Effekte aus dem aktuellen Pop-EDM-Regal. Stattdessen: luftige Stereobreite, klar gesetzte Harmonien, viel Liebe zur Mittellage und zu Instrumenten, die nach Holz, Saiten und Röhren klingen. Genau dadurch bleibt „Postcard From London“ trotz seines Retro-Antriebs nicht steif oder museal. Es klingt warm, lebendig, nach „jetzt“ – nur dass dieses „jetzt“ sich eben auf ein „damals“ bezieht, das für Fradkin und sein Umfeld nie aufgehört hat.
Unsere Wertung:
➤ Songwriting: 9 von 10 Punkten
➤ Komposition: 8 von 10 Punkten
➤ Musikalische Fähigkeit: 9 von 10 Punkten
➤ Produktion: 10 von 10 Punkten
➤ Gesamtwertung: 9,5 von 10 Punkten
Unser Fazit:
Wenn man es ganz runterbricht, erzählt dieses Album drei Geschichten gleichzeitig: die von Les Fradkin selbst, der nach Jahrzehnten immer noch Lust hat, große, melodische Popmusik zu machen; die von einer musikalischen Familie, die sich über Jahrzehnte kennt und gegenseitig stützt; und die von der Popmusik an sich, die – und das zeigt „Postcard From London“ sehr schön – überhaupt nicht alt werden muss, solange sie mit echter Zuneigung gespielt wird. Wer mit den Beatles, mit kalifornischem Jangle, mit orchestriertem 60s-Pop, mit Motown-nahen Harmonie-Ideen oder mit den melodischen Seiten der 70er sozialisiert wurde, findet hier nicht nur Wiedererkennung, sondern Weitererzählung. Und wer wissen will, wie man 2024 ein sehr nostalgisches, sehr langes, sehr detailverliebtes Popalbum macht, das dabei nicht peinlich klingt – der findet hier die Blaupause.
Oder anders gesagt: Diese Postkarte darf man ruhig beantworten.
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